Es ist eines der hässlichsten Fouls der neueren WM-Geschichte: Joe Veleno tritt beim Gerangel um den Puck an der Bande mit der messerscharf geschliffenen Schlittschuh-Kufe gegen Nino Niederreiters Unterschenkel. Der Tritt eines Pferdes, der zu einer schweren Verletzung hätte führen können. «Ich konnte mein Bein noch ein wenig abdrehen und Schlimmeres vermeiden. Ich hoffe doch, dass diese Aktion noch Folgen hat. Solche Szenen haben im Eishockey nichts zu suchen. Es ist ein hartes Spiel, aber letztlich eines für Gentlemen», sagt Nino Niederreiter. Raeto Raffainer sitzt im Direktorium des Turniers. Er sagt: «Der Fall wird überprüft.» Eine Sperre dürfte folgen.
Die Schiedsrichter haben nichts gesehen. Vor allem der dänische Referee Mads Fransen war in dieser intensiven Partie völlig überfordert. Aber aus politischen Gründen werden halt auch Operetten-Schiedsrichter bei der WM eingesetzt.
Diese hässliche Aktion endet absurderweise mit einer Zwei-Minuten-Strafe gegen Nino Niederreiter. Nicht etwa, weil er sich gerächt hat: Er befreit sich etwas energisch aus einem Zweikampf mit dem Kanadier, als sich das Geschehen inzwischen vor das Tor verlagert hat. Die Strafe nützt Kanada zum 1:0. Die Schweiz ist im 5. Spiel erstmals bei dieser WM im Rückstand.
Früher, als auch sonst noch vieles anders war, wären die Schweizer durch solche Vorkommnisse aus dem Tritt geraten. Nun passiert das Gegenteil. Nino Niederreiter sagt es so: «Dieses Gegentor hat uns noch mehr zusammengeschweisst.»
Sieben Minuten und zwei Sekunden nach dem 0:1 führt die Schweiz 2:1. Am Ende steht ein 3:2 gegen die Hockeynation Nummer 1. Es ist ein Heimspiel für die Schweiz. Unter den 8234 Fans in der Arena sind wohl gut und gerne 8000 aus der Schweiz angereist. So haben unsere Fans im Ausland die Stimmung einer WM-Partie noch nie dominiert. Eine Hockey-Party. Die Schweiz rockt Riga. Auf und neben dem Eis.
Eishockey-WM ist, wenn die Schweiz gewinnt. Inzwischen haben die Schweizer in den Gruppenspielen 15 Partien hintereinander gewonnen. Das hat es in unserer ganzen Geschichte noch nie gegeben. Um sich die Dimension unserer WM-Siegesserie vor Augen zu führen, ist es notwendig, eine Aufstellung zu machen.
Der einzige Schönheitsfehler: 2021 verloren wir den Viertelfinal gegen Deutschland (2:3 n. P.) und 2022 gegen die USA (0:3). Womit wir sagen können: Wahrlich, Eishockey-WM ist, wenn die Schweiz gewinnt. Zumindest in den Gruppenspielen. Wir sind Spengler-Cup-Weltmeister: unbesiegbar dann, wenn es zwar wichtig ist und wenn die Spiele von unserem staatstragenden Fernsehen live übertragen werden. Aber wenn es halt noch nicht um eine Landes- oder Weltmeisterschaft geht.
Wird es 2023 anders sein? Theoretisch ist nun alles angerichtet, um über den Viertelfinal hinauszukommen. Die Schweizer waren gegen die Kanadier dominant, physisch auf Augenhöhe, liessen sie nie einschüchtern und nie von der spielerischen Linie abbringen.
Früher waren Siege gegen Kanada historische Augenblicke. Nun sind sie Alltag: Kanada bei der WM besiegt? Na und? Welch ein Fortschritt: 1924 haben wir in Chamonix gegen Kanada (ohne NHL-Profi!) noch 0:33 verloren.
Die Schweiz spielt in Riga so schnell, präzis, kreativ und wie seit den besten Zeiten der Russen kein anderes WM-Team (da waren die Zeiten ja auch noch andere). Je nach Dressfarbe die grosse weisse oder rote helvetische Hockeymaschine.
Was zuversichtlich stimmt: Nico Hischier hat gezeigt, warum er aus einer guten eine grosse Mannschaft machen kann. Für die Art und Weise, wie er das 1:1 herausgespielt und vollendet hat, gibt es nur ein Prädikat: Weltklasse. Und an der blauen Linie ist Jonas Siegenthaler, sein NHL-Teamkollege aus New Jersey, ein «Werktags-Josi»: offensiv nicht so spektakulär und dominant wie der richtige Roman Josi. Aber defensiv so sachlich, fehlerfrei und smart, dass auch hier das Prädikat «Weltklasse» gilt. Mit durchschnittlich 20:16 Minuten schultert er auch am meisten Eiszeit.
Und was auch optimistisch stimmt: Leonardo Genoni ist hochprozentig. Er hat bei seinen drei Einsätzen 96,61 Prozent der Pucks abgewehrt. Er ist damit die Nummer 1 aller Goalies bei dieser WM, die mehr als ein Spiel bestritten haben. Und hochprozentiger als bei der Silber-WM von 2018 (Fangquote 91,5 Prozent).
Der Siegestreffer gelingt Andres Ambühl. Sein 3:1 (53. Minute) ist sein 25. Treffer bei der WM. Kein anderer noch aktiver Spieler hat bei einer WM so oft getroffen. Ihm am nächsten kommt Tschechiens Roman Cervenka (23 Tore). Andres Ambühl ist am 14. September 39 Jahre alt geworden. Der älteste WM-Torschütze ist er nicht: 2016 in Prag hat Jaromir Jagr mit 43 getroffen.
Die Schweizer stehen bereits vor den zwei letzten Gruppenspielen gegen Tschechien und Lettland im Viertelfinal. Es gibt genug Gründe, auf den ersten Sieg im Viertelfinal seit 2018 (3:2 gegen Finnland) zu hoffen.